Rede an den kleinen Mann




Du hast Angst vor dem großen Mann, seiner Lebensnähe und Lebensliebe. Und der große Mann liebt dich einfach als lebendiges Tier, als ein Lebewesen. Er will dich nicht leiden sehen, wie du seit Jahrtausenden leidest. Er will dich nicht blöde reden hören, wie du seit Jahrtausenden redest. Er will dich nicht als Arbeitstier erleben, weil er das Leben liebt und es frei von Leiden und Schmach erleben will.


 


Du treibst in wahrheit große Menschen dazu, dich zu verachten, sich im Schmerz vor dir und deine Kleinlichkeiten zu verkriechen, dich zu meiden, und, das schlimmste von allem, dich zu bemitleiden. Bist du, kleiner Mann, etwa ein Psychiater, sagen wir ein Lombroso, so stempelst du den großen Mann zu einer Art Verbrecher, oder mißglückten Verbrecher, oder Geisteskranken. Denn der große Mann sieht das Ziel des Lebens nicht wie du im Reichwerden, oder in standes-gemäßer Heirat der Töchter, oder in politischer Karriere, oder in professoralem Schmuck. Du nennst ihn daher „Genie“ oder „verschroben“, weil er nicht ist wie du. Er aber ist bereit zu sagen, daß er kein Genie, sondern einfach ein Lebewesen ist.


 


Du nennst ihn asozial, wenn er lieber mit seinen Gedanken allein ist als in deiner leeren, "geschwätzigen Gesellschaften“. Du nennt ihn verrückt, wenn er sein Geld auf wissenschaftliche Forschung ausgibt, statt es wie du in Aktien anzulegen. Du wagst es, kleiner Mann, in deiner abgrundtiefen Entartung, ihn, den einfachen geraden Mann, als das „Abnormale“ dir, dem Prototyp der „Normalität“, gegenüberzustellen. Du mißt ihn mit deinen kleinlichen Maßstäben, und du findest, daß er den Ansprüchen deiner Normalität nicht genügt. Du sieht nicht und lehnst ab zu wissen, kleiner Mann, dass du ihn, der voll von Liebe und Hilfsbereitschaft für dich ist, aus dem sozialen Leben hinaustreibst, weil du es unerträglich gestaltet hast, gleichgültig, ob in der Spelunke oder im Festsaal. Wer hat ihn zu dem gemacht, als der er nach vielen Jahrzehnten tödlichen Leidens erscheint?. Du hast ihn dazu gemacht, mit deiner Gewissenlosigkeit, mit deiner Enge, deinem falschen Denken, deinen „gesicherten Glaubenssätzen“, die keine zehn Jahre der sozialen Entwicklung überdauern. Denk doch bloß daran, was alles und wie Verschiedenes du allein in den Jahren zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg behauptet und als richtig beschworen hast. Wieviel hast du davon zurückgenommen, ehrlich eingesehen? Gar nichts, kleiner Mann“


 


…Du bettelst um Glück im Leben, aber Sicherheit ist dir wichtiger, auch wenn sie dich dein Rückgrat, ja dein ganzes Leben kostet. Da du nie gelernt hast, Glück zu schöpfen, zu genießen, zu beschützen, kennst du nicht den Mut des Aufrechten. Du willst wissen, kleiner Mann, wie du bist? Du lauschst den Ankündigungen der Abführmittel oder der Zahnpasta oder der Schuhcreme oder der Geruchsaustilgungmittel im Radio. Aber du hörst nicht die Musik der Propaganda. Du vernimmst nicht die abgrundtiefe Dummheit und widerliche Geschmacklosigkeit der Locktöne, die bestimmt sind, dein Ohr zu fangen. Hast du je aufmerksam die Witze gehört, die der Witzbold im Kabarett über dich macht? Über dich, über sich selbst, über deine ganze kleine Welt.
Horch auf deine Abführmittelpropaganda,
und du erfährst, wer und wie du bist.



 


..Höre, kleiner Mann: Das Elend des menschlchen Daseins erhellt sich in jeder einzelnen deiner kleinlichen Missetaten.


 


Du fühlst deine Kleinlichkeiten kleiner, wenn du verächtlich oder hochmütig „Jude“ sagst. Das habe ich erst vor kurzem entdeckt. Du nennst nun einen „Juden“, wer dir zuviel oder zuwenig Respekt einflößt. Und du willst ganz eigenmächtig, wie von einer höheren Gewalt zur Erde gesandt, bestimmen, wer „Jude“ ist. Doch ich verweigere dir dieses Recht, kleiner Arier und Jude. Ich bin der einzige in dieser Welt, der zu bestimmen hat, wer ich bin, und sonst niemand sonst.


 


…denn ich habe dich als eingesteiftes Tier kennengelernt, wenn du mit deiner inneren Leere oder deiner Impotenz oder deiner Geistesstörung zu mir kamst. Du kannst nur auslöffeln und nur nehmen, und kannst nicht schöpfen und nicht geben, weil deine körperliche Grundhaltung die der Zurückhaltung, des Verhaltens und des Trotzes ist; weil du in Schreckensangst gerätst, wenn sich in dir die Urbewegung der Liebe und des Gebens einstellt. Deshalb hast du Angst vor dem Geben. Und dein Nehmen hat im Grunde nur einen Sinn: du mußt dich immerzu mit Geld vollfüllen, vollfressen, mit Glück vollstehlen, mit Wissen ausstopfen, weil du dich leer fühlst, ausgehungert, unglücklich, und nicht echt wissen noch wißbegierig. Deshalb fliehst du auch die Wahrheit so sehr, kleiner Mann, Denn sie könnte in dir den Liebesreflex auslösen. Sie könnte, ja sie würde dir bestimmt zeigen, was ich hier unzulänglich zu zeigen versuche. Und das willst du nicht, kleiner Mann“ Du willst nur ein Konsument und Patriot sein.


 


… Viele große Männer haben dir zugerufen: Geh zu deinem Ursprung zurück. Horche auf deine innere Stimme, folge deinen wahren Gefühlen, Halte die Liebe hoch! Du aber warst taub, denn du hast den Sinn und das Gehör für solche Worte verloren.



 


Er glaubt an Dinge um so fester, je weniger er sie begreift. Und er glaubt nicht an die Richtigkeit der Gedanken, die er am leichtesten begreift.


 


Deine Befreier sagen dir, daß deine Befreier Wilhelm, Nikolaus, Papst Gregor, Morgan, Krupp, Ford heißen. Deine "Befreier" heißen Mussolini, Napoleon, Hitler, Stalin.


 


Je weniger du begreifst, desto mehr Verehrung zu geben bist du bereit. Du kennst Hitler besser als Nietzsche, Napoleon besser als Pestalozzi. Ein König bedeutet dir mehr als Sigmund Freud

Buchauszug aus Wilhelm Reich
*Rede an den kleinen Mann*
ISBN 978-3-596-26777-4